Mitfahrgelegenheit

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Analia macht heute “Homeoffice”. Und Aldo fährt auf Dienstreise zu zwei YPF Tankstellen. Wir dürfen mitfahren. Wenn ich YPF lese, das erste Mal am Flughäfelchen zu San Carlos de Bariloche, denke ich immer an Yps. Dieses Experimentierheftchen für Kinder aus den Achtzigern, das Micky Maus Konkurrenz machte. Im Gegensatz zu der Micky Maus gabs im Yps immer nützliches Plastikzeug mit dem man angeben konnte. In einer Ausgabe ca. 1988 gab es ein Überlebens-Kit. Ein orangefarbenes Plastikkästelchen mit dem Morsealphabet imprägniert, einem Spiegel, wahrscheinlich auch ein Kompass und ein Nylonfaden mit dem man bestimmt Menschenleben retten konnte.

Die Route 237 zwischen dem Nahuel Huapi am Rio Limay Richtung Norden

Das Plastikkästelchen hatte eine Lasche, damit man es am Gürtel befestigen konnte. Genau wie der Knochen von Diensthandy, den in den frühen 2000er-Jahren mein damaliger Chef stolz am Gürtel seinen Untergebenen präsentierte, präsentierte ich Ende der Achtziger meinen Schulfreunden den Inhalt der Yps. Mein Techniklehrer in der sechsten Klasse, Herr Meyer, der bekannt war für seine oralen Ausdünstungen, war sehr interessiert daran. Vielleicht dachte er, im orangefarbenen Überlegenskästelchen hätte ich Knoblauchzehen versteckt. Ist ja blutverdünnend, hilft bestimmt in den Anden. Herr Meyer war ein Öko. Und wenn er nicht gestorben ist (genau deswegen), dann isst er heute noch Knoblauch. Ich ja auch.

So ein Yps Überlebenskit hätten wir bestimmt gebraucht auf unserer Fahrt 700km durch den Norden Patagoniens. Wenn sich das Auto, der Dienstwagen, den Aldo für seine Dienstreise von seinem Kontraktor zur Verfügung gestellt bekommen hat, im falschen Moment verabschiedet hätte. Hat es aber nicht. Es hat vor der zweiten YPF-Tankstelle den Geist aufgegegen. Und das Überlebenskit aus der YPS hätte einen Ersatz-Keilriemen enthalten müssen. Der riss offensichtlich in San Martin de los Andes, genau in der leicht abfallenden Straße, die der Renault Kastenwagen dann ohne Motor bis zur YPF zurücklegen konnte, der zweiten Arbeitsstätte von Aldo. Dort stand dann wie gerufen der Kollege bereit, der die Karre dann erst von der Straße in die Tanke schieben half und uns dann mit seinem lauffähigen Renault-Kastenwagen im Regen an den sieben Seen entlang auf der Ruta 40 nach getaner Aldo-Arbeit zurück nach Bariloche fuhr.

Natürlich machte Analia kein Homeoffice. Das ist nur was sie der Tussi vom Skiclub Bariloche, für den sie arbeitet, an diesem Tag erzählte, als diese wissen wollte was heute denn so geht. Gerade wurden der Mate und andere Kräuter im Auto herumgereicht und Medialunas gegessen. Von meiner offline Playlist auf dem Smartphone tönt passend Gustavo Santaloalla’s Filmmusik “de Ushuaia a la Quiaca” und “Gangsters Paradise”. Natürlich machst du kein Homeoffice, wenn dein Mann heute mal bisschen in einer Wahnsinnslandschaft rumfahren muss für 1-stündige Arbeitsaufträge und deine Bekannten aus Europa, die du in Brasilien kennengelernt hast und nie im Leben daran geglaubt hättest, sie hier zufällig wiederzutreffen, mitfahren.

Ein Dreieck fahren wir. Nach San Martin de los Andes und irgendwo hin, was ich nicht verstand. Aldo fragte nach der Grenze zwischen der Provinz “Rio Negro” und “Neuquen”, die der Rio Limay nach der Ortschaft Dina Nuapi zieht, in der wir kurz vorher in einer Panaderia heißes Wasser für den Mate in die Thermos haben füllen lassen sowie 6 Medialunas zum Frühstück gekauft hatten, wohin die Damen denn gerne zuerst hingefahren werden wollen. Erst in die Wüste oder erst die sieben Seen entlang. Ich dachte mit Wüste an 47°C und Death Valley und schlug vor, vielleicht besser in den Morgenstunden durch die Wüste zu fahren statt am Nachmittag. Das war weise. So haben wir das Denkmal des Mannes, der hier nach dem tödlichen Unglück seiner Familie den Rest seines Lebens in der Abgeschiedenheit verbrachte, nur besichtigt, und sind nicht wegen eines gerissenen Keilriemens (auf dem noch Garantie war!) genauso verendet. In der verfallenen Hütte gabs noch eine Dose Thunfisch, die irgendwie geöffnet war, aber sich schon Xuxu, der Hund der Familie, der auch wie das Gemüse heißt, darüber stürzte.

So sind wir also mit diesem französischstämmigen Kastenwagen statt die famose Ruta 40 die Route 237 entlang des Rio Negro, der wenig später in den Stausee “Embalse Alicura” übergeht, mit einer Pinkelpause (der Herr am Straßenrand, die Damen und der Hund im trockenen Gestrüpp) statt zum Stein der Weisen zum Stein des Adlers gekarrt worden. Piedra del Águila. Abrupter Stopp in der YPF.

Aldo verschwindet auf dem Dach und nach einer Weile und dem Kauf dieser Postkarte im Souvenirgeschäft neben der Tanke, verstehe auch ich, dass wir hier jetzt ein bisschen in der Gegend rumlaufen und Wahlplakate besichtigen, bis Aldo fertig ist mit arbeiten. Die Gegend ist umwerfend. Es gibt sogar eine Einkaufsstraße, ein Casino und – was mir sofort ins Auge sticht – das Hotel Chamonix. Das in Google Maps eine “Hosteria” ist und von den Bildern ein bisschen an meine 5-Dollar-Doppelzimmer-Männer-Absteige in Kannur in Indien erinnert. Willkommen in Argentinien!

Hotel Chamonix, Piedra del Águila

Zurück gings auf der Ruta 237 und dann der 234 über den Militärstützpunkt Junín de los Andes zum Befreier Argentiniens – San Martin de los Andes. Statt den Libertador treffen wir dort auf oben genannten Retter in der Autonot, Che Guevara (naja, im Museum), Schulkinder in weisen Doktorkitteln, schöne Campingbusse und einen deutschen Geländewagen mit Jenaer Kennzeichen. Weniger Fotomotive als bei den Adlersteinen. Zu europäisch, touristisch. Kein schönes Wetter mehr. Am See kauft Analia Churros und ich eine Pasta Frolla, die kein Vergleich zu einer Linzertorte ist (langweilig trockener Kuchen ohne Geschmack, oder haben wir schon wieder Covid?). Der junge Kollege mit dem Musikgeschmack der alten Hasen im Auto fährt uns die Ruta 40 entlang im Regen vorbei an sieben Seen (die wir kaum sehen) und der schwer an die Schweiz erinnernden Dörfchen Villa La Angostura zurück nach Bariloche, wo wir kurz Aldos Mama kennenlernen, die mir einen Stapel Briefe ihres schweizer Opas an ihren Vater aus dem Jahr 1919 vorlegt. Ich kann sie lesen und verstehen. Und habe eine Motivation, zurückzukehren. Nach Bariloche. Das Versteck der Nazis.