… schreibt die liberale schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter für den morgigen Tag der Bundestagswahl. Alles hat ein Ende und morgen die Raute. Die Ära mit Mutti oder scherzhaft während ihrer Anfänge als “die Bundesglucke” geht zu Ende. Es grenzte damals ja schon an ein Wunder, dass eine konservative Partei eine Frau aufstellt, und diese dann auch noch 16 Jahre unser Land repräsentiert, worauf man im internationalen Umfeld stolz sein konnte. Im Gespräch mit Kollegen vernahm ich neben dem Erstaunen aus Lateinamerika, dass Deutschland ja in Sachen Gleichberechtigung* ganz schön altmodisch ist (aber wenigstens nicht korrupt wie dortzulande), selbst aus Saudi-Arabien Hochachtung für diese fähige Kanzlerin. Wohlgemerkt von einem Kollegen, der sonst schon eher Frauen in der Rolle sieht wie die Rechtspopulisten und die Alteingesessenen der konservativen Partei unserer Kanzlerin: in den 3 K’s. Wenngleich die themenmäßig zuletzt dann doch von 3G und 5G in den Hintergrund gerückt sind und der Greta-Effekt in Deutschland im Gegensatz zu Schweden mal richtig einschlug.

Was passiert jetzt? tituliert Dagens Nyheter am 22.September 2021 zu dem beginnenden Machtkampf in Europa um den Platz auf der Bühne, den Angela Merkel nach 16 Jahren freigibt.
Das mit dem Thema Korruption und dass das in ‘schland ja mit eurer Kanzlerin nicht so an der Tagesordnung steht wie in Amerika muss man nach letzten Skandalen doch korrigieren. Das Thema ist neuerdings ganz groß rausgekommen in Angela’s Partei, die spätestens jetzt wohl keiner mehr wählt, der diese Partei während der letzten vier Bundestagswahlen nur wegen der Kanzlerkandidatin gewählt hat. Die Schweden vermuten, dass morgen nicht die Zeit der Veränderung gekommen sein mag, sondern dass der Kandidat gewinnen wird, der am ehesten an Mutti erinnert. Und das könnte Vati Olaf sein und nicht jemand aus Mutti’s falscher Partei, der von seinem Auftreten eher an Neunzehnhundert-gleich-nachm-Krieg erinnert.
Wählen war schon einfacher, Ende der Neunzigerjahre zum Beispiel. Da waren wir noch jung, Erstwähler, voller Hoffnung auf Europa, das neue Amerika. United States of Europe. Offene Grenzen, gemeinsames Alles.
Und auch wenn die Schlagworte der Achtziger #Waldsterben #Tschernobyl und die Sonnenblumenaufkleber #AtomkraftNeinDanke etwas abgeebbt waren, so wählten zumindest die Coolen in meiner Klasse ÖDP oder die Grünen. Meine Eltern waren sozialdemokratisch geprägt, mitunter wohl auch, weil meine Tante bei der ehemaligen Justizministerin putzte und immer lustige Geschichten über die ‘Schwertgosch’ zu erzählen hatte. Nachdem mir die Wahlveranstaltungen aber sehr nach Propaganda vorkamen (womöglich etwas hypersensibilisiert im noch nicht lange zurückliegenden Geschichtsunterricht und Schulkameradinnen, die mit einem Hitlerattentäter verwandt waren) fand ich die mit den Sonnenblumenaufklebern dann doch sympathischer. Vielleicht fuhren die Sympathisanten der Grünen gegen Ende der Neunziger auch schon Fahrrad wie wir, die erst ein Auto besaßen, als der Trend schon zum Zweit- und Drittauto ging. Den ersten sonnenblumigen ‘Atomkraft – nein danke!’ Aufkleber sah ich circa 1984 auf dem weißen Mercedes der Lehrerfamilie, deren Tochter wir unsere Katze Mohrle verdanken, nachdem unser Kater Scherri erst vom Auto angefahren schließlich dem freilaufenden Kampfhund der Rocker in der Nachbarschaft erlag. Natürlich war das Kraftfahrzeug nicht mit Atomkraft sondern fossilen Brennstoffen betrieben, was den Aufkleber rechtfertigte, aber meine Mutter nahm sich mit dem Kommentar “würden sie Fahrrad fahren wären sie grüner” nie ein Blatt vor den Mund.
Hat sich Deutschland seither bewegt? Eine Greta hat meine Generation X jedenfalls nicht hervorgebracht. Es gab Menschenketten. Gegen die Müllverbrennungsanlage im Dorf. Ich erinnere mich an einen regnerischen Tag. Gebracht hat es nichts. Und dann Tschernobyl. Ein sonniger Tag im April, an dem ein seltener Ostwind wehte. Mir ging es nicht so gut und brach die schon begonnene Fahrradtour mit meinen Eltern ab. Den Kinderroman ‘Die Wolke’ von Gudrun Pausewang konnte ich nie zu Ende lesen. Zu beängstigend. Und zu realistisch. Die Enid Blyton “Abenteuer” Romane bescherten eine schöne Kindheit mit Träumen von der weiten Welt.

Aus der deutsch-französischen Freundschaft beim Schüleraustausch ist zwar nichts geblieben außer die Erinnerung an die verbogene Kuchengabel in der französischen Schulkantine von Arcis-sur-Aube, die dem harten Mürbeteigkuchen zur Begrüßung der schwäbischen Schüler nicht stand hielt. Aber immerhin haben wir inzwischen dieselbe Währung, bekommen dieselben Hundeleckerlies auf beiden Seiten der Grenze, und man merkt nur an der höheren Geschwindigkeit des Zuges von und nach Paris, dass man sich in Frankreich befindet. Alles andere, wovon ich vor dreißig Jahren gedacht hätte dass diese Zustände heute bereits herrschen: Fehlanzeige.
1999 hat mich mein Mitbewohner Peter im Hamburger Studentenwohnheim Rahlstedt überredet, als Wahlhelferin bei der Europawahl mitzumachen. Wir Twens kurz vor dem Sturm auf den internationalen Arbeitsmarkt fanden das wichtig. Meine Eltern weniger. Selbst meine aktive Teilhabe beim Auszählen der Stimmen in Wandsbek änderte nichts daran. Die Wahlbeteiligung lag bei schlappen 37%, bei der Wahl 5 Jahre später sogar weniger. Ich erinnere mich an diesen Tag auch mehr an die interessante Wahlhelferin, die bei der Hochzeit von George Harrison war, als an die Wähler selbst.
Noch eindrucksvoller waren in meiner Zeit in Hamburg die Kettenraucher der Hamburger Bürgschaft. Damals hat man einen Fernsehsender beauftragt, die Sitzung per Fernsehkamera und ein paar Kabeln ins Raucherzimmer zu übertragen. Große Politik haben die Raucher der eher konservativen Parteien der Bürgschaft nach meinem Empfinden jedenfalls nicht gemacht im Raucherzimmer, kein Wunder bleibt Deutschland das Schlusslicht bei der Tabakkontrolle in Europa.
Nun sind die Nichtwähler und der Beatle tot, Großbritannien ist schon wieder aus der EU ausgetreten, in Polen werden auf einer Anit-LGBTQ Demo die Regenbogenfahne der LGBTQ-Bewegung, das Hakenkreuz sowie Hammer und Sichel, dem Symbol des Marxismus-Leninismus als zu verbietende Bewegungen gleichgesetzt, die Russen kommen, und Europa verzettelt sich aus Uneinigkeit. Von einem gemeinsamen Sozialversicherungssystem, wirklich freiem Arbeitsmarkt, enge und effektive Kooperation der Sicherheitskräfte scheinen wir weit entfernt, den Fakten zu Terroranschlägen in der jüngeren Vergangenheit nach zu urteilen, und selbst ein Kraftfahrzeug umzumelden zwischen Belgien und Deutschland ist eine Herausforderung. Aber immerhin gibt es eine paneuropäische Partei, die das ändern will. Wählen wir morgen entgegen aller Ratschläge der großen Parteien und großen Organisationen Volt oder fahren wir übermorgen schon Tesla fürs persönliche Greenwashing?
* 1998 resultierte aus den Bundestagswahlergebnissen eine rot-grüne Regierung, die sich u.a. gleichgeschlechtliche Ehen auf die Fahne geschrieben hat. 1999 war die erste ‘Verpartnerung’ in Hamburg. Es dauerte weitere 18 Jahre (!) bis daraus eine Ehe werden durfte. Meine im Ausland geschlossene gleichgeschlechtliche Ehe wurde 2016 nicht als solche von den deutschen Behörden anerkannt.
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